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«leib mir bloß weg mit Jean! Wenn einer es sich mit allen anderen verdorben hat, dann er. Weiß alles besser, der Klugscheißer, lässt sich nicht auf die eigentlich verbindlichen Vorgaben der Cooperative ein ...»
«Du bist sehr gut informiert! Aber Jean liegt mit Herzinfarkt in der Poly. Es mag ja sein, dass er kantig und unbequem ist. Das gibt aber niemandem das Recht, ihn so zu behandeln. Seine Tochter Sarah wäre letzte Tage fast mit einem sabotierten Trecker umgekommen. Und ist seit drei Tagen verschwunden.»
«Ach die jungen Ladies. Verlieben sich und sind dann mal eine Woche weg, um das Leben zu genießen. Die kommt bestimmt wieder. Meine Chloé ist seit Monaten weg.», sie deutete auf ein kleines gerahmtes Photo, welches eine junge Frau im Profil zeigte. «Sie ist jetzt einundzwanzig, keine zu Ende geführte Ausbildung, kein Job. Dass der alte Jean einen Herzinfarkt bekommen hat, tut mir leid, ehrlich, aber das ist eigentlich nix, wo die Polizei helfen kann. Kann ich sonst noch was für Dich tun, Directeur Imbert?»
Siennes Stimme war innerhalb der letzten Sätze eisig geworden. Ihr Blick suchte keinen Blickkontakt mehr. Offensichtlich gab es da Themen, die Imbert so nicht zu ergründen wusste.
Imbert stand auf, hatte den Kaffee nicht angerührt, aber die Tasse auf ihren Schreibtisch abgestellt.
«Madame la Capitaine, entschuldigen Sie bitte die späte Störung.»
Während er sich umdrehte, um den Raum zu verlassen, sprach Sienne ihn leise an.
«Auguste, es gibt hier Zwangsläufigkeiten, die Du nicht kennst. Nicht kennen kannst, weil Du einfach davongelaufen bist. Und wenn ich mich gegen diese Zwangsläufigkeiten wehre, wird man mir hier das Leben zur Hölle machen. Gib Jean und Marie den Rat, schnellstmöglich zu verkaufen. Es gibt Interessenten genug, der Preis wird stimmen ...»
«Bist Du jetzt auch noch nebenbei Immobilienmaklerin?», Imberts Stimme war der blanke Zynismus offen anzuhören. Er drehte sich erneut zu Sienne um, sah ihr offen ins Gesicht und schüttelte den Kopf. Er sprach leise, aber sehr betont.
«Unsere Generation, Sienne, war aufgestanden, den Mief und den üblen Geruch der vierten Republik dauerhaft zu entfernen. Wir wollten innere Stabilität, wir haben gegen den Algerienkrieg und seine Folgen demonstriert! Hast Du das alles vergessen? Wollten wir nicht die intellektuelle Führung für eine komplett neue Generation wissensbegieriger und zukunftsorientierter Mitmenschen sein? Und Du zuckst zusammen, weil Dir plötzlich Dein Status als Capitaine in einer mittelgroßen Stadt wichtiger geworden ist? Bist das noch Du, Sienne? Die Rebellin? Die in der Schule Demonstrationen gegen brutale, schlagende Lehrer angeführt hat? Die am offenen Lagerfeuer nachts von Libération sprach? Die immer offen für das gute Neue im Leben war?», er schüttelte erneut den Kopf und verließ wütenden Schrittes die Gendarmerie. Siennes Stimme hallte ihm nach.
«Du selbstgerechtes Arschloch! Hast Dich davongemacht! Du weißt doch gar nicht, wie hier die Uhren ticken.»